Poem

VOR EINEM ALTEN RÖNTGENBILD

Für Aris Fioretos

So sind die Körper gegangen. In der verlassenen Wohnung
Ist alles posthume Ordnung, von den Spiegeln bereinigt
Bis zu den Flecken im Bad. Unten am Wannengrund
Klebt ein einzelnes Haar, das Relikt einer Tierart,
Die nach der Paarung sich wäscht und die Spuren verwischt.
Wie friedlich die Fensterbretter mit ihren toten Fliegen –
Und doch kommt der Schrecken auch hier
Gern zu Besuch.

In die Ritzen legt er sich, auf Schwellen und Heizungsrippen,
Ein Nest für Insekteneier, ein geruchloser Weihrauch,
Der die Zimmer durchzieht, die Herdplatten schwärzt,
Lauwarm am Boden, in den Vorhangfalten schon kalt.
Hautschuppen sind es, Stäubchen aus einem Reptilienkäfig,
An denen sich zeigt, wer hier schläft. Vom Kalender
Annonciert überm Spülstein, hat die Zeit überdauert
Irgendein Montag.

Unter den Dielen liegt Bauschutt, und an den Möbeln ist nichts
Menschlich, außer der Zähigkeit, die sie geschaffen hat,
Den geripphaften Tisch, das Ensemble verknöcherter Stühle,
Die solang keine Hüfte mehr warmhielt und keine Hand.
Im Waschbecken trocknet, im Wasserhahn krümmt sich
Die Illusion vom erleichterten Leben. Komfort
Ruft aus den Ecken ein Hausgeist, der sich versteckt hält,
Wo sonst der Staubsauger aufheult
Im animalischen Dreck.

Dorthin zurück kehrt, manchmal nach Tagen, nach Wochen,
Erstaunt, der hier wohnt. Mit dem Schlüsselbund fällt
Sein Blick auf neutralen Boden, bevor er sich fängt
Im geschlossenen Mauerwerk. Gebannt steht er da,
Für Augenblicke sich fremd wie vor den spurlosen Fugen
Der Kaltwasserbecken Pompejis, vor der zerkratzten Wand
Im Haus der Verkohlten Möbel, den Obszönitäten,
Dunkel und fleischlos.

So sind die Schatten verschwunden. Und vom Stein aufgesaugt
Ist der schmale Schweißrand, den in der Julihitze am Mittag
Der Fuß einer Römerin hinterließ. Die Kammern alle,
Durch Türen verbunden, nachdem sie geräumt sind,
Kennt keiner sie wieder. Vor versammelter Leere
Ist jedes Rosa getilgt, und der Rost an den Rohren bleibt
Länger frisch als in der Küche das Fischblut, auf neuen Tellern
Der Augapfelglanz.

Doch in den Abfalleimern keimt Leben. Und manchmal bricht
Beim Durchwühlen der Tüten ein Fingernagel. Ein Mißgriff
Zieht einen Splitter ins Fleisch. Eine Schublade klemmt,
Weil ein Photo, das dich als Säugling zeigt, festhängt
Mit der Beharrlichkeit eines Gegenstandes im Traum.
Pflanzen, im Schrank vertrocknet, dementieren den Frieden
Einer tickenden Wanduhr. Von überall höhnt es:
‘Sieh, was draus wird...’.

Das steife Handtuch, zum Beispiel, am Haken, und an der Tür
Ein Paar Halbschuh, bis hierher getragen. Oder die Bürste,
Grau mit dem Abdruck vom Zähneputzen – ein Nachlaß
Zur Lebzeit, erspäht durch ein Schlüsselloch,
Ein Archiv kleiner Tode, das jederzeit auflösbar ist.
Bis etwas anfällt, das keiner vermißt hat, – ein Röntgenbild
Zwischen gelben Rezepten in einer Krankenakte,
Ein Negativ, das den eigenen Schädel zeigt,
Im Knochen den Bruch.

Das Souvenir eines Unfalls, – und durch Bestrahlung ist
Alles Fleisch restlos beseitigt worden. Weiß auf dem Film
Liegt ein Schleier, um leere Augenhöhlen der Zigarettenrauch
Eines paffenden Engels. Ein Dreieck klafft
Anstelle der Nase. Durch den verdunkelten Mund
Schiebt sich das All. Und dieses Grinsen, in Kalzium gefaßt,
Ist das erste Gesicht und das letzte, aus dem
Nichts mehr zurückblickt.

Denn mit den Wimpern gestrichen, mit den geduldigen Lidern,
Sind auch die Augen, Haut und Haar aufgebraucht
Wie aus den Drüsen der Stoff für Romane, die Tränen,
Und jede Falte. Auf die man so gerne gebissen hatte,
Die Lippen sind fort. Und verschluckt ist die Zunge
Hinterm Gebiß. Doch in den Jahren nachher
(Oder waren es Stunden) blieb, wo der Hammer ihn traf,
Der verbogene Nagel im Putz. Durch den Anstrich sichtbar,
War an der Decke der Wasserfleck. Blau wie am ersten Tag
Stand die Vase im Fenster, das Veilchengrab, lag in der Schale
Ein rundes Stück Seife, unbenutzt. Und die Spur von Gebrauch
An Messern und Flaschenhälsen war eine falsche Fährte
In der verlassenen Wohnung. Vor kahlen Wänden,
Flackernd im Röntgenlicht, zeugte nichts mehr
Von den Balancen der Körper, verschwunden
Im Kommen und Gehn.

original title: 'VOR EINEM ALTEN RÖNTGENBILD'




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